Artikel.Essays

Taxi nach Benghazi

Eine Reise durch Libyen

in „DIE ZEIT“: http://www.zeit.de/1999/48/199948_libyen.htm
http://www.archiv.ZEIT.de/daten/pages/199948.libyen_.html
Nr. 48/1999

Morgens 1.40 Uhr. Ankunft Tripolis Flughafen. Ich betrete den Boden eines Landes, das weiter von Europa entfernt ist, als knapp drei Stunden Flugzeit vermuten lassen. Nach der Aussetzung (nicht Aufhebung!) des 1992 von den USA verhängten Embargos steuern europäische Fluggesellschaften die Hauptstadt Libyens wieder an. Am Vormittag – Pressekonferenz: Libyen sei bereit, sich zu öffnen. Aber man versuche, im Gegensatz zu anderen arabischen Nationen, die Kontrolle über die Aktivitäten ausländischer Investoren in diesem Land zu behalten, jedenfalls sagt das ein hoher Beamter der Industrie und Handelskammer, Saleh Zahaf: Die Identität des libyschen Volkes solle nicht dem Ausverkauf preisgegeben werden. Arabia felix.
Ich habe vor, ein Interview mit Muammar al-Ghaddafi zu führen. Es soll dabei nicht um Politik gehen, sondern um Literatur. Ghaddafi hat ein Buch geschrieben, eine Novellensammlung mit dem Titel Escape To Hell And Other Storys. Selbstverständlich ist ein ganzer Apparat damit beschäftigt, einen der exzentrischsten Staatsmänner des Jahrhunderts abzuschirmen. Ghaddafi ist allerdings auch gar nicht zu Hause. Er trifft sich in Südafrika mit Nelson Mandela. Ich verschiebe das Interview und mache mich auf den Weg in das Land, von dem in Escape To Hell die Rede ist. Man zeigt uns freundlich die grandiosen römischen Ruinenstädte am Mittelmeer: Sabrata und Leptis Magna. Schon die Griechen hatten um 500 vor Christus in den östlichen küstennahen Regionen des heutigen Libyens nach dem sagenhaften Goldschatz Afrikas gesucht.
Wir fahren in ein noch älteres Siedlungsgebiet: das der Garamanten, der Ureinwohner Libyens, in das 600 Kilometer südlicher gelegene Ghadames, die Wüstenstadt an den Grenzen Libyens zu Algerien und Tunesien. Kurz vor dem Ziel. Zwölf Uhr mittags. In der flimmernden Luft vollkommene Stille, kein Zikadengezirp, kein Rascheln, kein Hauch. In dem Ort hinter uns, wo eben noch Kinder auf der Straße herumrannten und ein paar Frauen Wasser und Melonen schleppten, ist kein Mensch mehr zu sehen. Alles hat sich hinter den Mauern verkrochen.
Und da ist er plötzlich: der gibhli. Als eine einzige Woge konzentrierter Hitze rollt er aus dem Tal den Hang herauf. Die Dattelpalmen unten in der Senke biegen sich, als ob sie Grashalme wären, und jeder Stein scheint zu ächzen, und man schnappt nach Luft und denkt: Das kann nicht sein. Das ist der Atem der Hölle. Wenn dieser Wind mit den vielen Namen im Sommer aus dem Innern der Sahara weht, treibt er sogar in den Küstenstädten das Thermometer in kürzester Zeit bis auf 45 Grad Celsius.
„Ghadames, The Jewel Of The Desert“ steht auf einem Werbeplakat. Die verwinkelte Architektur der Altstadt hatte nur den einen Sinn: ein wenig Kühlung zu bieten. Jetzt lebt man in modernen Betonbauten mit Klimaanlage und fließendem Wasser. Die ehemaligen Gärten sind verfallen. Im Gästebuch des Museumshauses bedankt sich eine Reisegruppe aus Hannover für die Gastfreundschaft. Auch Norbert Blüm war vergangenen Winter hier. Jetzt im Sommer steht das Hotel leer. Ein Falke sitzt auf einem Zaun, die Flügel abgespreizt in die leichte Brise.
In Sirte, wo er zur Schule ging, empfängt Ghaddafi Staatsgäste
Westlich von Ghadames in der Wüste liegen auf einer kleinen Anhöhe zwei kreisrunde tiefblaue Seen, wie die Augen eines im Wüstensand verborgenen monströsen Wurms. Das Wasser ist kühl und stark salzhaltig. Die Abbruchkante dieser Kraterseen führt senkrecht nach unten. Vor ein paar Jahren, erzählt der Führer, stürzten hier nachts zwei Touristen mit ihrem Landrover ins Wasser. Ein italienisches Archäologenteam tauchte kurz darauf in die Krater. In 50 Meter Tiefe gaben sie auf; das Senkblei fand keinen Grund. Der Fahrer und ich springen ins Wasser und klettern so schnell wie möglich wieder heraus. Ein Schwarm winziger Fische stiebt in die Tiefe.
Ein paar Tage später steige ich in Sirte aus dem Bus; ursprünglich ein unbedeutendes Fischernest am Meer. Hier ging Ghaddafi zur Schule. Hier ließ er das administrative Zentrum Libyens aufbauen und beendete damit die Rivalität zwischen Tripolis und Benghazi. Hier empfängt er Staatsgäste.
Es gibt es Ministerien, Verlagshäuser, Medienzentren, eine Kongresshalle in der Form eines Beduinenzeltes und nagelneue Wohnsilos – aber erstaunlich wenig Menschen. Abends sitze ich vor einem Geschäft für Brautkleider und trinke Tee mit den Verkäufern. 70 Kilometer weiter im Süden lebt Ghaddafis Familie, erzählen sie. Dort, vor seinem Beduinenzelt, gibt er von Zeit zu Zeit ein Interview. Aber nicht mir.
An der Wand meines Zimmers hat eine Frau den Abdruck ihres roten Mundes als Souvenir hinterlassen. Als ich am frühen Morgen das Hotel verlassen will, liegen die Angestellten schlafend auf den Sofas in der Lobby. Vor dem Laden eines Metzgers baumelt ein abgeschnittener Kamelkopf im Morgenwind. Ich nehme ein Taxi und komme am Abend in Benghazi an.
„Wait a minute, please“, sagt die Dame an der Rezeption des Hotels. Ich sinke in eines der tiefen Sofas und warte. Nach einer halben Stunde kommt ein kleiner, alter, zerbrechlicher Mann mit einer dunklen Sonnenbrille. „Sorry, Sir. Unfortunately the telephone lines have been cut.“ Das macht nichts. Das Interview kann warten. Wir werden unterbrochen. Jeder lässt sich hier von jedem unterbrechen, und danach muss man wieder von vorne anfangen. Das ist es, was ein Gespräch erst so richtig schwierig macht. In Benghazi, der zweitgrößten Stadt Libyens am östlichen Rand der Großen Sirte, lernt man schnell, geduldig zu sein. Hier konzentrierte sich das Leben des östlichen, orientalisch geprägten Libyens.
Benghazi war eine große Handelsmetropole. Das Embargo hat die Stadt in Dämmerschlaf versetzt. Und nach ein paar Tagen schon fühlt man sich wie in einem abgekoppelten Eisenbahnwaggon. In den Cafés sitzen die jungen Männer und warten. Einer von ihnen, studierter Elektrotechniker, sagt mir: Es gibt keine Zukunft in Benghazi, auch keine Vergangenheit. Ich frage: Nicht einmal Gegenwart? Sie lachen und wissen nicht so genau. Die Jugend von Benghazi sieht sich um den Anschluss an den so genannten internationalen Standard gebracht. Das ist kein hausgemachtes Problem. Libyen, einem der reichsten und entwickelsten Länder auf dem afrikanischen Kontinent, verkauft man keine Eintrittskarte in die Gegenwart.
Die Ölmanager aus dem Westen ärgert das auch, denn auch sie müssen, vorläufig, noch warten. Und dabei kommt das libysche Erdöl so rein aus dem Wüstensand, dass man es in Dieselmotoren verbrennen kann. Jedenfalls wird das auf einem der zahllosen Ghaddafi-Plakate propagiert, die in Libyen beinahe allgegenwärtig sind. Die Hölle – das sind die Massen, schreibt Ghaddafi. Man flüchtet vor den Massen in die Wüste. In der Wüste spürt jeder seine Nichtigkeit – und Größe. Beides kann zur Hölle werden.
Der magisch leere Raum der Sahara, den man wie eine graue Eminenz hinter allem spürt, was einem in diesem Land begegnet, zieht mich noch einmal in seinen Bann. Ein neuer Überlandbus schwedischer Herkunft mit Air-Condition lässt auf eine erträgliche Reise hoffen. Aber der Bus kann nicht gestartet, sondern muss mit vereinten Kräften angeschoben werden. Nach ein paar Kilometern tropft das Kondenswasser der Klimaanlage aus den Lautsprechern.
Eine Nachtfahrt durch den Great Sand Sea bei Vollmond – das ist wie ein Flug durchs All. Fast jeder schläft. In dem blauen Licht der Bordlampen haben sich die Berber in ihre weißen Kaftane gehüllt. Wie große Seidenraupen liegen sie in ihren Sesseln; nur eine schwarze Hand, ein nackter Fuß verraten die Anwesenheit von Menschen. Der Mond steht über einem schier endlosen Meer von Sanddünen. Plötzlich heult der Motor auf. Der Bus fährt im Schritttempo über ein dickes Seil und hält im Lichtschein eines Kontrollpostens an. Der Fahrer steigt aus und gibt einen Stapel Papiere ab.
Die Schwaden der Wasserpfeifen duften nach Apfel
Es scheint Komplikationen zu geben. Ein Soldat betritt den Bus und verlangt die Pässe. Jeder Einzelne wird akribisch geprüft. Man ist auf der Jagd nach illegalen Einwanderern aus den Kriegsgebieten des Sudan und des Tschad. Ein paar Kilometer weiter wird eine Rast eingelegt. Die Relaisstation ist taghell erleuchtet. In der Kühle der Nacht wird gebetet, gegessen, geraucht und die allgegenwärtige grell orangefarbene Limonade getrunken, in Libyen herrscht striktes Alkoholverbot. Hinter einem im Wind wehenden Vorhang sitzt ein alter Mann am Tisch, den Kopf auf den Armen, schlafend unter einem laufenden Fernseher. Eine riesige Ameise schleppt einen Brotkrümel in die Dunkelheit.
Nach ein paar Tagen und Nächten im Bus habe ich keinerlei Gefühl mehr für die verbrauchte Zeit. Das gleichmäßige Brummen der Motoren, das Vorbeigleiten der immer gleichen und doch ständig wechselnden Szenerie, die Hotelzimmer, die sich nur im Hitzegrad voneinander unterscheiden, lassen mich allmählich den Grund und die Absicht meiner Reise vergessen.
Stattdessen erscheinen mit einem Mal unbedeutende Details wie unter dem Vergrößerungsglas: symbolische Darstellungen eines ebenso unerbittlichen wie aussichtslosen Überlebenskampfes. In der Gluthölle der Sahara breitet sich der Fatalismus aus wie ein Virus. Kein einziger Tourist begegnet mir auf dieser Reise. Wozu auch solche Strapazen auf sich nehmen? Damit man am Ende ein auf dem Dach liegendes Buswrack betrachtet, das am Straßenrand liegt wie ein ausgeweideter Käfer, einen Fetzen grünen Tuches an einem Dornenstrauch, ein Sandkorn? Mitten in der Nacht hält der Bus vor einer aus dem Nichts auftauchenden großen Moschee. Junge Männer fallen sich in die Arme. Ein Kustos führt sie in das hell erleuchtete Innere. Die Tür schließt sich. Wir fahren weiter, Richtung Küste.
Über die Dachterrasse des mondänen Al-Kabir-Hotels in Tripolis treiben die nach Apfel duftenden Schwaden der Wasserpfeifen. Hier mache ich die Bekanntschaft des Herausgebers der in London erscheinenden Zeitung Al Arab.
Er ist eine Autorität in Libyen und ein Freund Ghaddafis. Schlagartig fällt mir ein, warum ich eigentlich hier bin. Ein Kontakt zum Leader, wie er hier von jedermann genannt wird, rückt in greifbare Nähe. Leider bin ich in der nächsten Nacht schon im Flugzeug. Ein paar Tische weiter nippen junge Männer an ihrer Pepsi-Cola, versunken im Gesang des Ud-Spielers Nasser Aledraghily, den sie den „King of Maghreb“ nennen. Seine Lieder handeln von Liebe und Traurigkeit. Jedes Land hat seinen Blues. Dieser hier ist besonders zart und schmelzend, in der lauen Luft.
Beim Anblick der Menschenmassen am Frankfurter Flughafen denke ich: Sie alle, ob sie es wissen oder nicht, suchen nach dem, was nur in der Wüste zu finden ist. Die Tür des Glücks geht nach außen auf, sagte ein dänischer Philosoph.

© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 48
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STAIRWAY TO HEAVEN

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 12. 2000, Nr. 301


Der alte Mann in dem langen braunen Kaftan bekommt kaum noch Luft. Er atmet durch den Mund, kurz, flach, hektisch, den Blick nach innen gerichtet, wie ein Mensch der den Tod wittert. Der Andere redet gestikulierend auf ihn ein; ihm hat Allha die Gabe der Rede verliehen. Sie treibt ihn vorwärts wie ein Außenbordmotor. Plötzlich hebt der Asthmatiker den Kopf und sagt einen einzigen Satz. Der Andere nickt und verstummt.
Draußen zieht der Atlantiknebel die Dorfstraße herauf. Die Männer haben die spitz zulaufenden Kaputzen über die Köpfe gezogen, wie in einer Prozession des Ku-Klux-Klan.
Die Szene spielt in Mirhleft. Mirhleft war Kult in den 70-ern, bis mitte der 80-er. Warum es ausgerechnet dieses Dorf an der südmarokkanischen Atlantikküste traf ? – ich weiß es nicht. Vielleicht deutete irgendjemand mit dem Finger auf die Landkarte; und alle kamen sie: Jimmi Hendrix, Led Zeppelin und jede Menge Hippies und Junkies. Als ich hier ankam und in die staubige schnurgerade Dorfstraße mit den beidseitigen Balustraden einbog, dachte ich, das Ganze könnte irgendein Kaff in Mexico sein.. Hier hätte Orson Welles ein paar Szenen von »A Touch Of Evil« drehen können. Nur eine Bar sucht man vergeblich. Die fette Zeit ist vorbei, als Beatnik- und Drogenparties rund um die Uhr gefeiert wurden und die Stars der internationalen Rock- und Popszene hier ihre Groupies vögelten. Aber nach einiger Zeit tauchen ein paar Gespenster der Vergangenheit auf: altgewordene Drifter in Jeansmontur, Dealer mit glasigen windschiefen Augen, die schlechten Dope und alte Geschichten anbieten, als ob sie nicht mitbekommen hätten, daß alles längst vorbei ist. Ein ältlicher verwahrloster Jüngling, der in ein Café kommt, an mehreren Stellen einfach dasteht, in sich versunken, von niemandem beachtet – und wieder verschwindet, scheint selbst die Gespenster von damals noch leibhaftig vor sich zu sehen. Ein paar Tage später rastet er aus, randaliert und wird rausgeschmissen; rätselhaft der Grund seiner plötzlichen Wut.
Hier gibt es ein paar schöne Strände, eine bizarre Felsenküste – und keine Polizei, damals wie heute. Aber guter Stoff ist rar geworden; er kommt aus dem Norden, und man muss schon Geduld haben und gute Beziehungen, um an das Beste zu kommen was man in Marokko kriegen kann. Und man muß schon einige Zeit in Mirhleft bleiben, um eine Ahnung davon zu bekommen, daß es in der arabischen Seele trotz allem eine tiefsitzende Immunität gegenüber dem westlichen Lebensstil gibt, die diesen Ort die importierte Orgie hat überstehen lassen. So wie er die Besatzung überstanden hat, deren Relikte oben auf dem Berg verrotten, wo die französischen Offiziere in grandiose Sonnenuntergänge starrten und ihre Militärmaschine versuchte die Spanier in Schach zu halten, die sich ein paar Kilometer weiter südlich in den öden Bergen festgekrallt hatte. In Sidi Ifni haben manche Straßen und Plätze noch spanische Namen. Hinter Ifni beginnt die große Leere. Und irgendwo weiter unten warten hundertausende Vergessene West-Sahauris in Wüstencamps und hoffen auf die Polisario und das UN-Referendum: Secondhand-Palästinenser. Irgendjemand erzählt, daß von Sidi Ifni aus illegale Boote Flüchtlinge auf die spanischen Inseln bringen. 36 lebensgefährliche Stunden auf dem rauhen Atlantik. Die Kanaren – das Miami Marokkos. Die Geschichte wiederholt sich in abgeschwächter Form immer und überall. Sie bringen Whisky und Gin zurück aufs Festland und verkaufen zu horrenden Preisen. Mirhleft ist trockengelegt – definitiv der richtige Ort, um Malcom Lowrys »Unter dem Vulkan« zu lesen und auf bessere Zeiten zu warten. Seit vier Jahren hat es nicht mehr geregnet, und irgendwann wird die Wüste direkt in den Ozean rieseln. Aber an diesem Nachmittag ziehen Wolkenschleier von Westen heran und ein feiner Nieselregen treibt ein unwirkliches Grün aus den wenigen halb versteinerten Pflanzen. Den Menschen bleibt davon nichts. Die Dürre macht sie alle langsam fertig. Die aus den Bergen kommen in die Dörfer am Meer. Und die aus den Dörfern am Meer gehen, wenn sie können, in die Städte. Aber einer der Söhne bleibt immer zurück, um auf den Hof aufzupassen. Er hat kein Geld, keinen Job, kriegt keinen Paß und keine Frau, wird von den Touristen korrumpiert – und wenn er nicht eines Tages so tut, als ob er »verrückt« ist, dann ist er ganz erledigt. »He is a little bit crazy. Don´t speak with him«, sagt einer vom andern. Aber wenn sich jemand mal aufrafft und etwas auf die Beine stellen will, dann nervt und intrigiert und sabotiert die neidische und eifersüchtige Sippschaft so lange, bis das Projekt wieder zu Fall gebracht, alles wieder beim alten und die Hoffnungslosigkeit wieder hergestellt ist.
In Indien gibt sich selbst die Armut prächtig. In arabischen Ländern representiert sie nur das Elend verlorener Leben. Das Leben eines Zigarettenverkäufers in einer kleinen arabischen Stadt: das wäre die angemessene Strafe für die Warlords dieser Welt.
Aber wie zum Trost gibt es ihn immer noch, den unverwüstlichen Rucksacktouristen mit Gitarre und Bob Marley-Songbook; tritt paarweise auf, die Gehirnzellen rauchvernebelt, spricht hermetischen Kiffer-Jargon: Ausgebrannte, die auf der Höhe ihrer Ausgebranntheit noch einmal richtig lebendig erscheinen. Da ist einer aus dem Elsaß, pensionierter Alt-Hippie, liest Apollinaire und Verlain, und wenn er einen Sonnenuntergang sieht, sagt er: »C´est ne pas mal, eh ?!«. Dann sind da ordentliche deutsche Kunsthandwerker und voralpenländische snowborder, die ihre Aktivboxen aufstellen und Worldmusic hören, im »Hotel Du Sud«, Treffpunkt und Caravanserei der Fremden und Einheimischen. Und die seltenen weiblichen Gäste sind auch eher von der derberen Sorte; manche von ihnen haben sich die Fingerspitzen nach marokkanischer Art mit Hennamustern verziert und haben schon ihre Tächter dabei. Eine gutaussehende weiße Frau läuft hier Spießruten; die jungen Burschen sind einfach zu ausgehungert. Unten im Restaurant läuft jeden Abend derselbe trostlose Mix: »Shugar Mountain«, »Lola«, »The Wind Of Change«. Und nachts hört man sie alle husten vom vielen Kiffen. Wenn es das Meer nicht gäbe und seine Brandung, die wie eine Koppel weißer Hunde den Strand hinaufläuft, dann würde man hier glatt verblöden.
Bald ist registriert, daß hier jeder jeden versucht übers Ohr zu hauen, selbst die Kiffer legen sich noch einmal mächtig ins Zeug. Das »business« bestimmt diese Kultur, nicht der Stolz, die Ehre und der ganze mythische Kram. Der Araber belügt sich selbst noch viel mehr als der Europäer – nur mit dem Unterschied, daß er es zu wissen scheint und Lust daran hat: das ist seine Ironie, und deswegen fühlt er sich überlegen; und in dieser Hinsicht ist er es auch. Es gibt viele Närrische hier, ein plötzlich überschnappendes, fast hysterisches Temperament. Aber über allem schwebt gnadenlos geschäftstüchtige Nüchternheit. Die jungen Mädchen, noch nicht hinter Schloß und Schleier, treiben wie Blüten auf brackigem Wasser. Aber auch sie werden nicht Nein sagen dürfen. Die Frauen gelten den Moslems als etwas Fremdes, aus engelhaften Höhen Herabgeschwebtes, Eingeflogenes, so zart und flüchtig – daß man es einsperren muß: Nietzsche war in puncto Frauen auch ein Moslem. Der Maghreb, arabische Länder überhaupt tragen immer zu einer Klärung des Geistes bei, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Erinnerungen tauchen auf, an Dinge, die niemals waren. Der Schlaf ist prall von Träumen, die in tiefere Schichten reichen als sonst. Die Paranoia wächst. Ich packe meine Sachen, lüge über meine Absichten und flüchte mich ein paar Kilometer weiter in ein alleinstehendes Hotel am Strand. No Electricity. Beim Abendessen sitzt mir im Kerzenlicht eine trächtige Hündin gegenüber und starrt auf jeden Bissen, den ich esse. Am nächsten Tag fühle ich mich besser fahre ich noch einmal zurück nach Mirhleft, ins »Hotel Du Sud«, nehme dasselbe Zimmer. Und erlebe noch einmal dasselbe. Nachts zieht wieder der Nebel der See auf wie in »The Fog« von John Carpenter. Das Bilderverbot des Islam hat die visuelle Phantasie kastriert und sie zum Ornamentalen verdammt. Aber Ersatz wird notorisch per Satellit geliefert. Aus dem Café gegenüber knatter die grauenvollen Dialoge deutschen RTL-Schrotts, den sich die Männer, jung und alt, tausend und eine nacht andächtig reinziehen, ununtertitelt. Die Globalisierung entwickelt solche Landstriche nicht; sie erstickt sie und überzieht sie mit dem ihr eigenen Schwachsinn. Es ist eine verdammte Barbarei – und vielleicht nur ein Mißverständnis, das keiner als solches sieht, und das sich deswegen weiter und weiter ausbreitet wie eine Seuche.
Nachts rächen sich die Hunde dafür, daß sie den ganzen Tag über gescheucht werden und betteln muessen. Ihr Geheule ist der immer wieder vergeblich unternommene Versuch, sich Mut zu machen. In aller Frühe schreit und bellt der stockunmusikalische Muhezzin dermaßen laut, weil er weiß, daß Gott schon sehr weit weg ist – und ihm doch gleichzeitig tief in der Kehle sitzt.
An einem Tag wie diesem, unter dem harten Blau, in sauberer laufender Luft möchte man wie James Steward in »Marocco« mit Lippenstift auf einen Spiegel schreiben: »Ich hab´s mir anders überlegt«.
Nach zwei Wochen erfüllt mich die Tristesse dieses Ortes bis auf den Grund. Ein Sandsturm zieht auf. Und plötzlich wird alles endlos und eng und einsam. Der Hauch der Wüste. Frauen sitzen mit ihren Kindern auf den Schotterfeldern und warten. Die alterslose hypermotorische Dorfirre in ihrem geblümten flatternden Kleid hält an der Straßenkreuzung den wartenden Taxifahren eine flammende Rede. Sie hören Alles und glauben nichts. Einmal »Stairway To Heaven« zu oft gehört – und es ist niemals wieder gut zu machen.


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Reise ins Innere der Erde
Was ist das – Berliner Architektur ?

Magazin „Skyline“, 2000 / „Der Architekt“, Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten BDA

Die beste Art einen Eindruck von einer Stadt zu bekommen, ist, sich nachts in ein Auto zu setzen und ziellos umherzufahren. Vielleicht ist am Tag nicht wiederzufinden, was in der Nacht zu sehen war. So ist es mit den Träumen auch: die, von denen man nichts weiß, müssen noch lange nicht ungeträumt sein. Sigmund Freud verglich seine Methode der Traumdeutung einmal mit der Arbeit eines Archäologen in Rom: Er stößt immer wieder auf tieferliegende Schichten, die jeweils versunkene Zeiten repräsentieren. Eine Stadt ist wie ein langer, wilder, kollektiver Traum – und die jeweils Lebenden sind die einzigen, die an diesem Traumgeschehen gerade noch aktiv beteiligt sind. Bei einem Querschnitt durch die Tiefenschichten wird sichtbar, wie diejenigen, die längst nicht mehr träumen können, eigentlich leben wollten, wie sie stattdessen leben mussten, und was am Ende ihrer Zeit davon übrigblieb. Aber Berlin ist lange nicht so alt wie die Stadt am Tiber. Und doch hat die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts es zu einem ebensolchen Trümmerfeld gemacht. Nur, die Relikte liegen weniger vertikal übereinandergeschichtet sondern eher horizontal nebeneinander.
Wir biegen also am Ernst-Reuter-Platz in die große schnurgerade Straße des 17. Juni Richtung Osten, an der Siegessäule vorbei, dann rechts ab durch das Hochkulturzentrum um die Philharmonie und die Staatsbibliothek, die wie riesige Fragmente phantastischer halb untergegangener Ozeandampfer aus dem hartgetretenen Grund der ausradierten Berliner Mitte ragen. Vorbei an der neuen Nationalgalerie, die auf Geist und Organismus wie ein Alka-Seltzer wirkt, zum südlichen Teil des Potsdamer Platzes: Gotham-City – abenteuerlich-düster, mystisch fast, mit seinen funkelnden Trabanten, wie von Möbelpackern zum Abtransport bereitgestellt. Australische Aborigines sitzen manchmal mitten in Supermärkten am Boden, dort, wo ein alter magischer Ort ihrer Vorfahren war. Berliner Jugendliche bewegen sich heute schon in der Vorstellung dieser zukünftigen Zivilisationsruinen, die vielleicht Kultstätten des 21. Jahrhunderts sein werden, wie jetzt stillgelegte Elektrizitätswerke und aufgelassene Luftschutzbunker .Und weiter Richtung Kreuzberg, die Hochbahn entlang, French Connection, man fühlt sich tatsächlich ein wenig wie in New York. Hier könnte man bleiben. Aber wir sind schon auf dem Weg zum Paradox der Leipzigerstraße, wo durch die Negation aller westlich-individualistischer Architektonik der Eindruck echter Urbanität entsteht. Über den Alexanderplatz mit seinen großen Videowänden, der, wären da mehr Leute und ein paar fliegende Untertassen, etwas von Blade Runner hätte. Und schließlich – wie vorausgesehen: Berlin Mitte.
Da gibt es zum Beispiel ein Lokal mit einem Namen, das auf die altgriechische Stilfigur des Oxymoron zurückgreift, die eine Verbindung zweier sich eigentlich ausschließender Begriffe unter einen Hut bringt. Es ist kein Widerspruch in sich, dass man dort ebensogute Drinks gemixt bekommen kann wie in einer anderen Bar am Lützowplatz, in der ein großes Portrait Mao Tse-tungs hängt. Der Name dieses Lokals in den Hackeschen Höfen mit dem altgriechischen Namen ist Programm und symptomatisch für das, was man früher einmal postmodern genannt hat. In den zwanziger Jahren ein marokkanisches Restaurant, wovon noch die orientalische Stuckatur übrig ist, schlägt man dort jetzt drei Fliegen mit einer Klappe. Das Kern- und Hauptstück ist ein gediegenes Restaurant, ausstaffiert mit Sofas, Sesseln, Spiegeln, Drapagen. Sogar eine Kanzel wie ein De Sade´sches Boudoir gibt es. Und eine lange leicht geschwungene Bar, von der aus man das überwiegend moderate bürgerliche Publikum beobachten kann, wie es auf seine abendlichen Kosten kommt. Dort geht man hin, wenn man bei Kerzenlicht ein business oder sich selbst feiern will.
Im Hinterzimmer gibt es einen »Club« für das jüngere Publikum, das den Kontakt zum Mutterschiff noch nicht ganz verlieren will. Dort ist die Musik zu laut für lange Gespräche und in der siebziger-Jahre-Lichtdramaturgie dringt der Geruch der Körper manchmal durch das Containment synthetischer Düfte. Und im Keller schließlich dann das Trash-und-Party-Biotop für die noch jüngeren, die mit den beiden anderen Klassen eigentlich gar nicht viel zu tun haben wollen. Deswegen ist dort die Musik noch lauter und die Rauchschwaden noch dichter, und auf den Matratzen und Sperrmüllsesseln liegt die jeunesse dorée des anbrechenden Jahrhunderts, die jeden falschen Luxus verachtet und lieber pärchenweise in der Toilette verschwindet. Diese Schichtung frappiert den Archäologen, denn die geologisch älteste Schicht liegt oben. Die wochenendlichen Touristen, die wie Fischschwärme an diesem Riff vorbeiziehen, bemerken in ihrer unvermeidlichen Ignoranz meist gar nicht, was für ein Inzest sich vor ihren Augen abspielt. Solche Lokale sind perfekt funktionierende Maschinen mit einer ausgeklügelten Logistik. Im richtigen Moment am richtigen Ort eröffnet, sind sie das, was man in einem Gespräch »gewitzt« nennt. Im richtigen Moment wird das Licht gedimmt, und man bestellt sich noch einen Drink, obwohl man eigentlich gehen wollte.
Später dann versucht man über den Hackeschen Markt zu kommen und findet sich im Szenario eines Fritz Lang-Films: blaue Lichtblitze werfen lange groteske Schatten über die wankenden Hauswände; sie schießen aus den Schweißgeräten der Männer, die wie Angestellte der Hölle in kleinen beweglichen Kisten über die Straßenbahnschienen gebeugt sitzen. Rauchschwaden wehen von dort über den Strom der Passanten, die sich, ein wahres Gerücht, ehrenvoll illuminiert fühlen können. Das wirkt auf das Unterbewußtsein.
Schwer zu sagen, wie lange noch. Aber irgendwann wird man das alles so auf Hochglanz poliert haben, dass niemand mehr, wenn er eigentlich nach Hause möchte,
einen Thrill verspürt und in diesem nächtlichen Lichtgewitter in einer anderen Bar verschwindet.
Barbesitzer und Kneipiers kennen die unwägbaren Wallungen des Szenepublikums und sind schon froh, wenn sie eine Stammkundschaft halten können. Architekten scheinen sich kaum um diese zu scheren. Sie sind nach dem Richtfest nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Sie spielen das Spiel eben nie zu Ende. Sie können genausowenig wie irgendjemand sonst voraussagen, was die Menschen am Ende akzeptieren und was nicht; aber letztere müssen sich bei dem rasanten Tempo des Aufbauprozesses damit abfinden, in kürzester Zeit vor vollendeten Tatsachen zu stehen – während der Architekt sich bereits in den nächsten lukrativen Wettbewerb stürzt.
Städte zitieren sich wechselseitig wie Menschen. Aber manche Städte sind eben nicht WIE – sondern SO wie sie sind. Eine Stadt ist niemals nur Kopie einer anderen Stadt; Kopisten sind immer nur ihre Baumeister.
Die Berliner Taxen sind eierschalenfarben, ihre Fahrer, nicht unfreundlicher als die in New York, entstammen dem gleichen Völkergemisch. Der Kollege aus Rudow entlässt mich vor der Bar »Würgeengel« in Kreuzberg, wo auf den ehemals besetzten Häusern keine Politparolen mehr prangen, sondern Sonnenkollektoren.


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WALKING THE DOG

TAZ, 2000

Die Bars und Kneipen des alten Berliner Westens sind ein Endlager strahlender Rhapsodien. Gekränkte, betrogene, verlassene, für immer unerhörte Seelen. Nichts dringt nach oben vom Sockel des Riffs. Jeder will jeden belehren, man durchdringt sich gegenseitig, bis man implodiert. Beruflich erfolgreich, privat frustriert. Bizarre Riten, auf den asphodelischen Wiesen, warten, rätseln, ob man schon lebendig ist oder noch tot. Egal. Eine handvoll Überlebender in einem Sumpftümpel des Mesozoikums. Glotzende Reptilien, aufgeblähte Frösche, antropoide Elritzen. Sie spähen, spucken, schnappen, glitschen einem durch die Finger. Für einen guten Auftritt gibt es immer einen Drink. Ein rauher Schrei treibt das Rudel wieder zusammen. Die Dons müssen unheimlich hart arbeiten, um ihre Klientel in Schach zu halten; damit verbrauchen sie einen Großteil ihrer Kraft, und in weniger anstrengenden Momenten fallen sie dann kraftlos in sich zusammen. Eine alte Bekannte entpuppt sich plötzlich als wüste Paranoikerin; selbst ihr Atem riecht verrückt. Schluß damit, so will man nicht enden, nicht so. Jede Szene erreicht wie ein Bumerang irgendwann den entferntesten Punkt der Ellipse; dann geht es nur noch ums Abfangen, dann kommt sie zurück wie ein Vampir. Nach John Carpenters Vampire$ das Gefühl in den nächtlich leeren Straßen, daß es keine Lebenden mehr gibt, nur noch Tote. Ein Trio von Schauspielstudenten hat sich hierher in eine Charlottenburger Kinokneipe verirrt. Zwei Männer, eine Frau, beide verliebt. Pluton, Persephone, Hermes. Daß sie sich zuhören können, ohne sich ins Wort zu fallen, ohne sich anzuschreien, daß sie alles was sie sagen auch meinen, daß sie auf den Tiber schwören, der an allen Katastrophen Roms vorbeifloß, die verquere unnachahmliche Art Persephones dazusitzen und ihre Wange plötzlich auf den Handrücken ihres Freundes zu legen: alles an ihnen ist revolutionär. Sie gehen so zärtlich miteinander um wie junge Katzen. Sie sind, was sie waren, unschuldig, zu allem bereit. Wenn sie nur Terroristen würden. Warum gibt es keine Terroristen mehr in Deutschland ? Das Bewußtsein der Menschen zu überfallen war bis in dieses auslaufende Jahrhundert hinein Sache der Kunst. Aber diese Rolle hat längst der Terror, gleich welcher Provenienz, übernommen. Politischer Terror, irrationaler Terror, Kamikazeterror – das ist nicht zu überbieten. Was den saturierten, hoffnungslos überfütterten, verblödeten, vulgären okzidentialen Kulturmenschen mehr erschüttert als alles andere und bis ins Mark aufreizt, ist die Tatsache, daß es Leute gibt, die sich einer Sache opfern, die sie für gerecht halten. Je unbegreiflicher ein Terrorakt ist, desto größer der thrill, den diese ewig Passiven empfinden; sie sind von derselben Sorte, wie die, die sie verachten weil sie sie bewundern müssen, nur unendlich viel feiger. Man muss nicht einmal mehr Misanthrop sein, um dieser Kultur den letzten Gruss zu erweisen. Der Schwanengesang läuft längst auf allen Programmen, die direkt in das Gehirn münden wie ein Abwasserkanal, und ein Wetterleuchten durchzuckt, wie immer, die letzten Nächte. Werden wir alle enden wie die untoten Struldbrugs in Swifts „Gullivers Reisen“?: Ichsüchtig, eitel, sinnlos böse? Aber am Ende marschieren die drei Schauspielstudenten wie Zinnsoldaten davon: Pluton seine Percy fest im Griff wie eine abtrünnige Slavin, weil der steinerne Gast ihr heimtückisch einen Antrag gemacht hat, den sie unmöglich annehmen konnte.
Daylight. Ein Modefotograph am Nebentisch beschreibt einem Mädchen, das offenbar selbst Ambitionen hat, den Körper eines seiner Modells – und er tut das sehr charmant. Selbst sein Handy ist verspiegelt. Alles was er sagt, versickert für immer in ihrer glucksenden Glückseligkeit. Schöne Männer sind noch weniger in der Lage ihre Eitelkeit zu verbergen als schöne Frauen. Wenn man ein unsichtbares Netz über die Bleibtreupassage spannen würde, in dem sich nur die Schönheit verfängt: man hätte viele Nächte lang zu tun. Aber es gibt immer jemanden, der gerade dort ist, wo du nicht bist, und auf dich wartet – den gleichen Gedanken im Kopf. Das ist das düstere Prinzip des ruhelosen Suchers. Deswegen ist er an keinem Ort gern gesehen. Denn sie wittern mit der Instinktsicherheit der Sesshaften: Er wird nicht bleiben, denn nicht wir sind es, die er sucht – selber Schuld: warum lassen wir uns auch so gehn. In der Bar Gainsbourg am Savignyplatz sitzt ein Heiner Müller-Double. In der Paris-Bar gibt es ein lebensgroßes Photo von Ben Gazzara und einen unglaublich sympathischen libanesischen Kellner. Hier versuchte sich vor einiger Zeit, zum Entsetzen des österreichischen Wirts, eine Clique russischer Mafiosi zu etablieren. Aber die Wasserhähne auf den Toiletten sind nicht vergoldet, sondern verrottet wie zuhause. Also strichen sie die Segel. Arabia felix.
Ein langhaariger ergrauter Assi im Leinenjackett, der seine beiden Tischgenossinnen schon weidlich langweilte, kauft einem Pakistani einen batteriebetriebenen Gartenzwerg ab und läßt ihn auf dem Tisch tanzen – das hält er für Sarkasmus. Ich verliere endlich die Nerven, schnappe mir den Gartenzwerg, zerschmettere ihn und trete rasend auf ihm herum: Rausschmiß, Hausverbot. Höflich dankend nehme ich an. Es war schwül diese Nacht, und die Taxis lagerten mit offenen Türen an der Straße wie schlafende Haie an einem Riff, die Kiemen in die kühlende Strömung gereckt. Hinter all diesen erleuchteten Fenstern vollzog sich die De-und-Regeneration der Menschheit, the Good, the Bad and the Ugly. In der Zoulu-Bar realisiert einer unseren Zustand und wünscht mir en passant Glück. Man müsste schon ein Jean Paul sein, um diesen Salto mortale artistisch nachzuvollziehen. Das Leben schäumt aus dem Nichts auf wie eine blutige Fontäne. Manche Arten verändern sich über Jahrmillionen kaum, andere haben nur einen kurzen unscheinbaren Auftritt, andere spritzen wie Lava aus dem Rachen der Evolution und verglühen in einem grandiosen ungesehenen Feuerwerk. Man möchte sie halten, jede von ihnen ist es wert. Es gibt keine Zuschauer, die Perioden sind zu lang. Das alles vollzieht sich in zahllosen Sonnensystemen in einem kometendurchschweiften Universum, wie auf Bühnen, in deren Hintergrund ein Wesen schläft, das in äonenlangen Atemzügen den Kosmos ein und wieder ausatmet: Shiva himself, sleeping, kosmisches Flimmern, traumloser Schlaf, zitterndes dunkelglitzerndes Gallert der Fruchtbarkeit, Planetentrauben wie Eierstöcke, aus denen sich ein Follikel nach dem anderen löst und magnetisch dem Samenschaum entgegentreibt – oder ist all das der Traum dieses schlafenden Gottes, der manchmal beinahe geweckt wird durch die seltenen säurehaltigen Ekstasen irgendeines unbedeutenden Wesens, das durch seinen Schlaf geistert, mit seinem wütenden Glück den Lustnerv des Schläfers kitzelt und die Katastrophe seines Erwachens heraufbeschwört ?
Ich möchte in einem Land leben, wo man Anzüge tragen kann ohne zu schwitzen und mit Leuten über Shakespeare reden kann ohne sich wie Fallstaf fühlen zu müssen. Ehrenhafte Trottel haben schon immer viel mehr Schaden angerichtet als intelligente Schurken. Denn diese heilten im Frieden die Wunden, die sie im Krieg angerichtet hatten.
Endlich finden wir ein italienisches Restaurant, das schon geschlossen hat aber noch offen ist. Dort im abgetrennten dunklen Speisesaal küssen wir uns. Die schwarz-weiß gefleckten Kellner hinter der Glaswand im Licht zucken wie Welse in einem Aquarium. Sie sehen uns nicht und wir interessieren uns nicht mehr für sie.

finis


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“WAS BESTECHLICH IST WILL MIT AN BORD”


Literaturnobelpreisträger DEREK WALCOTT – Dichter des Meeres

„Mare“, Nr. 28, Oktober/November 2001

Zum ersten Mal hörte ich von Derek Walcott im Radio und notierte den Namen auf einem Streichholzbriefchen. Die Streichhölzer verschwanden irgendwann, der Name mit ihnen. Aber er tauchte wieder auf, nicht weil er leicht ist und oben schwimmt, sondern weil man Walcotts Verse so leicht nicht vergisst. Für“Omeros” erhielt er 1992 den Nobelpreis für Literatur.
Das Buch ist ein Fundstück allerersten Ranges, aus dem Meer geborgen, und das Meer ist die Hauptperson in diesem langen epischen Gedicht. Gerade eben erschien“Mittsommer”, ein monumentales autobiographisches Poem, die Odyssee des karibischen Dichters.
Walcotts Sprachgewalt verblüfft und elektrisiert, noch bevor man begreift, worum es eigentlich geht. Hymnisch besungen erscheint in“Omeros” die Inselwelt der Karibik und ihrer Bewohner: Einfache Leute, der Fischer Achilles und sein Rivale Hektor, der sein Boot gegen ein Taxi eintauscht, kämpfen um die schwarze Helena mit dem zitronengelben Kleid. Unendlich reich und biegsam und flirrend ist die Sprache Walcotts wie der Spiegel der Dünung, wenn er das Meer beschreibt, oder die nagende Eifersucht des Betrogenen, oder die Liebe, besonders die Liebe:“Sie schlossen sich der geschmeidigen Paarung der Tümmler an, auf einer weißen Decke, an zebragestreiftem Nachmittag.” Walcotts Werk stellt eine Verschmelzung zweier Formen der Unendlichkeit dar: Sprache und Ozean.´
Sein Ton ist verhalten und voller Pathos, filigran und narkotisch wie das Licht der Tropen. Seine Farben explodieren am Himmel über der weißen Brandung, wie ein Widerschein der großen Seeschlachten zwischen der englischen und der französischen Flotte vor der Antilleninsel St.Lucia. Rhythmus, Klang und Farbdramaturgie der Sprache Walcotts erzeugen, was Karl Jaspers einmal “Chiffren der Transzendenz” nannte: Sie sind nicht Erkenntnis von Etwas, sie sind keine deutbaren Zeichen, sondern in ihnen selber ist gegenwärtig, was auf keine andere Weise gegenwärtig werden kann.“Seemannsgarn das ich seit über vierzig Jahren spinne, jeder einzelne Satz”, schreibt Walcott in“Mittsommer” – wir glauben ihm die Ironie. Wenn man Derek Walcott gegenüber sitzt und einen seine meergrauen Augen fixieren, spürt man etwas von der Kraft des Dichters, die verwandelt, beschleunigt und intensiviert. Selbst wenn von der neuerlichen Unterwerfung der Kariben durch einen Traumkitsch-Tourismus und der blutigen kolonialen Geschichte die Rede ist, hält Walcott höchstes ästhetisches Niveau.“Erklär einem Sklaven von den Rändern zerfallender Imperien, welche Macht diesen Werken entströmte, den verzeihenden Brunnen mit ihren Nymphen und Löwen.”
Walcott ist weitgereist und von geradezu enzyklopädistischer Bildung. Ob er von den Aufständen der Farbigen im Londoner Stadtteil Brixton schreibt, oder von dem Zackenbarsch draußen am überhitzten Riff, der“zuschnappt, angestachelt von sich selbst erschreckenden Elritzen” – die Übergänge der Bilder (sub)marinen Lebens zu politischen und poetologischen Reflexionen zeugen von einer ungeheuren Spannweite der Wahrnehmung.“Wer schloß das offene Maul der Makrele? Ein Konquistador.”
Aus“Mittsommer” zu zitieren nähme kein Ende, denn das Werk ist aus einem Guß – und doch so vielschichtig, dass man sich manchmal fühlt wie in einem Kino dicht vor der Leinwand: man kann das Bild nicht als Ganzes erfassen, aber jeder Auschnitt ist ein Film für sich. Denn“Unter der Koralle des Gehirns wimmelt es vor Ameisen”
Wenn sich in den Zentren der ehemaligen Imperien Lähmung verbreitet, dann kommen ihre besten Stimmen oft von den Rändern zurück, wenn auch wie Wellen, von sehr weit her. Die Parallele zwischen den Griechen Homers und den Kariben Walcotts liegt nahe. Die Natur hat keine Wiederholung nötig, aber das Prinzip der Verwandschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die Zeit. Derek Walcott lässt sich nicht reduzieren auf einen Lieferanten exotistischer Szenarien. Er verweigert sich auch der Vereinnahmung durch Flüchtlinge aus der sogenannten ersten Welt. Stil ist Karakter.“Verpflichtet sind diese Gedichte keiner Tradition,
ich habe sie eher hochgehievt wie algenüberwucherte Anker; jedes sinkt wie ein Stein auf den Grund des Meeres, aber lass sie – wenn sie Glück haben – liegen wo die Steine tief sind, im Gedächtnis des Meeres”, schreibt er in dem Kapitel“Tropenzone”
Das Material dieser Dichtung ist so reich wie sein Stil: Das Martyrium der Indianer Nordamerikas, der Gesang der Schwarzen im Rumpf der Sklavenschiffe, karibischer Schamanismus, Songs von Bob Marley, das geheime Reich der Meerestiere und die Lebens- und Liebessucht der Menschen – alles wird bei Walcott zum Experiment der Schönheit – selbst seine düsteren Passagen, Attacken und Kakophonien. Der bildergenerierende Dichter der See und des karibischen Lichts ist, da der Intellekt immer nach einer Maske verlangt um zu sprechen, Odysseus und die Sirenen, Robinson und Freitag, Eros und Thanatos zugleich. Wer, wenn nicht Walcott, wäre der Dichter des Meeres?
Sein Werk ist der wortmächtig-gelungene Beweis, dass der Phönix der Schönheit immer wieder aus den Trümmern der Geschichte aufsteigt, wie Plankton, das wenn,“die Dunkelheit weicht vom Meergrund der Antillen, entflammt phosphoreszierend zu Augenweiden der Lobpreisung.”
Der See sieht man nicht an, was auf ihr geschah. Die Namen der Menschen sind in Wasser geschrieben, auch die der berühmtesten. Das, was vom Menschen bleibt, als Zeugendes, nicht als Zeugnis seiner Niedertracht, muss durch den Spiegel der Kunst. Um diesen passieren zu können braucht es die Magie der Sprache. Und es gibt nur wenige, die ´aus dem Schrecken Schönheit machen können´, ohne zu fälschen.“Der Ozean dessen Stolz es ist, dass niemand eine Spur hier hinterläßt, bietet noch Orte wo die eigensüchtige Feder mehr ist als das Schwert,
und die Koralleninsel des Hirns hat Stellen, wo die Republik der Tintenfische allein für uns ausgerufen wurde.”
Wer wenigstens einen lebenden Dichter bewundern will – für den ist Derek Walcott der richtige Kandidat. Es ist Zeit, dass man wieder versteht, was einen Dichter von einem Schriftsteller unterscheidet, bevor“ein dunkler Wind diese Feder vom Schreibisch rollt, ein gebrochenes Ruder, ein Szepter im Schlingern der Brandung, das Skandieren der See.”
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Derek Walcott, 1930 in Castries auf der Antilleninsel St Lucia geboren, lebt in Trinidad und Boston .
“Omeros” , deutsch bei Hanser-Verlag München
“Mittsommer”, Erstausgabe 1984, Farrar, Straus & Giroux, NY; seit Juli 2001 zweisprachig bei Hanser-Verlag München, Edition Akzente.

Alle Zitate von Derek Walcott.

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